Plattform Rechtsstaat (Türkei)
In der Türkei sind weiterhin tausende Akademiker*innen, Jurist*innen und Journalist*innen in Haft. Der Vorwurf lautet stets: Mitgliedschaft oder Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Begründet wird dies mit dem missglückten Putschversuch von 15.7.2016, tatsächlich geht es jedoch vor allem um die Ausschaltung jener Eliten, die dem Machtstreben der AKP skeptisch gegenüber stehen. Neben der politischen Opposition sind dies kritische Medien, Reste einer unabhängigen Justiz und Akademiker*innen, die sich um Wahrheit bemühen. Schon vor dem Putschversuch wurden zahlreiche regierungskritische Medien verboten, unliebsame Richter und Staatsanwälte willkürlich versetzt und deren Gerichtsentscheidungen nicht befolgt. Nach dem 15.7.2016 folgte eine Entlassungs- und Verhaftungswelle, die auch ein Viertel der türkischen Justiz umfasste. Neben der Ausrufung und mehrfachen Prolongierung des Ausnahmezustands als „Inszenierung der Krise“ war dies Signal für die endgültige Ausschaltung der Unabhängigkeit der Rechtssprechung, deren Richterrat von der AKP durch politische Intervention schon zuvor unterwandert worden war. Man kann also zurecht einen großen Teil der eingangs erwähnten Inhaftierten als politische Gefangene bzw Dissidenten bezeichnen.
Vor diesem Hintergrund hat sich in Österreich eine Plattform gebildet mit dem Ziel, Aufmerksamkeit für die Ausschaltung des Rechtsstaats in der Türkei zu wecken, juristische Hilfestellungen zu leisten („amicus curiae“) und die europäische Politik zu wirksamen Gegenmaßnahmen zu bewegen. Dieser „Plattform Rechtsstaat“ gehören unter anderem an: International Press Institute (IPI), Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte (BIM), Österreichische Liga für Menschenrechte, Österreichischer Journalisten Club (ÖJC), Rechtsanwaltskammer Wien und Vereinigung österreichischer Richterinnen und Richter (RiV).
Was aber stützt die Behauptung, es handle sich vielfach um rechtswidrig festgehaltene Personen? Wie in jedem den Prinzipien eines Rechtsstaats verpflichteten Land fordert auch die türkische Strafprozessordnung auf dem Papier bei Verhängung der Untersuchungshaft gegen Personen zum Zwecke der Strafverfolgung einen dringenden Tatverdacht sowie einen Haftgrund. Einige Richter und Staatsanwälte wurden wegen Fluchtgefahr in Haft genommen, obwohl sie in Kenntnis eines Haftbefehls selbst freiwillig an ihren Dienstort zurückkehrt und sich der Staatsanwaltschaft gestellt hatten. Den Inhaftierten, die zum Teil mehr als ein Jahr auf die Anklage warteten, wurden die Gründe für ihre Festnahme lange überhaupt nicht gesagt und offensichtlich erst danach krampfhaft nach Möglichkeiten zur Untermauerung einer gar nicht realen Hinweises auf Mitgliedschaft oder Unterstützung einer terroristischen Vereinigung gesucht. Dieser Verdacht ungegründeter Anschuldigungen ist nun erwiesen, da zahlreiche Anklagen vorliegen, die schon auf Grund ihres Inhalts bei jedem unabhängigen Gericht zu einem Freispruch führen müssten.
Geradezu „copy paste“ wird in den meisten Anklagen Folgendes als ausreichender „Beweis“ angeführt: 1. ein „Kollege“ des Angeklagten habe bei seiner Einvernahme angegeben, dass es „möglich sein könnte“, dass dieser einer verbotenen Organisation angehöre, 2. der Angeklagte habe die Messenger-App „ByLock“ genutzt, die pauschal der Gülen-Bewegung zugeordnet wird.
Beim ersten Anklagepunkt kam es mehrfach vor, dass der als Zeuge geführte „Kollege“ entweder für das Gerichtsverfahren unauffindbar war oder in der Verhandlung angab, es sei falsch protokolliert worden. Häufig stellten sich die Behauptungen dieser Zeugen rasch als unwahr heraus, wie etwa zum behaupteten Wohnort des Angeklagten, der tatsächlich dort nie gewohnt hatte oder zu einer Universität, die der Angeklagte nie besucht hatte. Auffällig ist, dass Personen auf Grund mehrfacher solcher Anschuldigungen die eigene Haftentlassung ermöglicht wurde.
Zur Messenger-App „ByLock“ liegen vielfach nur Verbindungsdaten vor und keine Inhalte, selbst diese Verbindungsdaten sind meist unüberprüfbar und stammen angeblich von Mitarbeitern des Geheimdiensts. Die App selbst kann laut Experten von jedermann genutzt werden, was mittlerweile auch von einigen türkischen Gerichten anerkannt wird.
In einem dokumentierten Fall stützte der Statsanwalt und danach auch der Richter den Beweis für die Mitgliedschaft des Angeklagten in einer terroristischen Vereingung auch auf die besonders skurrile Argumentation, dass dieser im Ausland bei einer internationelan Organisation tätig war, und zwar über Auftrag eines AKP-Ministers, der derzeit im politischen Abseits steht.
Bei jeder unabhängigen Justiz würde eine derart dünne „Beweislage“ zu einem glatten Freispruch führen. Nicht so in der Türkei aufgrund der durch den Druck von Entlassungen und Verhaftungen erfolgten Ausschaltung der Unabhängigkeit der Rechtsprechung. Die systematische unprofessionelle Vorgangsweise, der Gleichklang der Anklageschriften und Urteile sind ein deutlicher Hinweis auf diese „Gleichschaltung“ der türkischen Justiz.
Vereinzelte Entscheidungen, die anders ausgehen, werden nicht befolgt, etwa ein Urteil des Verfassungsgerichts, das in den Fällen Alpay und Altan Mitte Jänner 2018 entschieden hatte, dass durch die seit mehr als einem Jahr andauernde U-Haft das Recht der Angeklagten auf persönliche Freiheit und Sicherheit verletzt werde und dieses Verfahren gegen die in der Verfassung verankerte Meinungs- und Pressefreiheit verstoße. Das Urteil wurde nach Regierungskritik von den Strafgerichten nicht umgesetzt – die Journalisten verblieben in Haft.
Diesen Zusammenbruch des Rechtsstaats und die Ausschaltung der Unabhängigkeit der Rechtsprechung haben auch zahlreiche internationale Organisationen und Vereinigungen erkannt.
Noch im Juli 2016 richtete die Internationale Richtervereinigung (IAJ) angesichts von mehr als 3000 entlassenen Richtern und Staatsanwälten einen Appell an die Türkei: „to limit suspension of members of the judiciary only to those against whom a concrete suspicion of an involvment in the coup d´etat occurs and to respect the independence and irremovability of the other judges.“
Angesichts der weiteren Entwicklungen die tausende Justizangehörige ohne konkreten Tatverdacht ins Gefängnis brachte, bildeten die vier europaweit tätigen Richterorganisationen (AEAJ – Association of European Administrative Judges, EAJ – European Association of Judges, MEDEL – Magistrats Européens pour la Démocratie et les Libertés and Judges for Judges) eine „Platform for an Independent Judiciary in Turkey.“ Schon im August 2016 trat diese Plattform an den Generalsekretär des Europarats und andere europäische Stakeholders heran und forderte unter anderem „to establish within the Parliamentary Assembly an independent Investigation Commission of experts in Human Rights on the situation of the independence of the judiciary in Turkey.“ Im October 2016 richtete diese Platttform einen Aufruf an die türkischen und europäischen Verantwortlichen, mit Nachdruck darauf hinzuwirken, „that fundamental principles have to be follwoed even in extraordinary circumstances like the right to access to a lawyer, like the necessity that there is at least a concrete suspicion of an involvment in a crime…“
Spätestens im Frühjahr 2017 zeichnete sich deutlich ab, dass die türkische Regierung nicht bereit war, die Aushöhlung des Rechtsstaates zu beenden. Dies fasste die Internationale Richtervereinigung mit einem Statement unter dem Titel „The End of the Rule of Law in Turkey“ zusammen.
Etwa zur selben Zeit verfassten auch die Europäische Richtervereinigung, die European Bar Association und die European Federation of Journalists ein gemeinsames Schreiben: „Recalling that the judiciary, the legal profession and the media represent the cornerstone of a democratic state the undersigned organisations urge the Turkish government to restore an independent judicial system in accordance with the rule of law, to ensure freedom of expression and of the media and to guarantee to all citizens the fundamental right of access to justice and access to a lawyer“ We man der Wendung „to restore the independence“ entnehmen kann, gingen die Verfasser bereits damals davon aus, dass eine unabhängige Justiz in der Türkei nicht mehr existierte. Dieser Meinung schloss sich auch das Europäische Netzwerk der Richterräte an, das den Beobachterstatus des türkischen High Councils suspendierte, da die Erhebungen „forced to conclude, that the Turkish High Council for Judges and Prosecutors no longer meets the requirments of the ENCJ, that it is independent for the executive and the legislative, so as to ensure the independence of the Turkish Judiciary.“
Davon unbeeindruckt ließ Präsident Erdogan jedoch die Verfassung ändern. Die von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats mit der Überprüfung des Entwurfs, der im Referendum vom 16.4.2017 auch bestätigt wurde, beauftragte Venedig-Kommission kam hinsichtlich der Justiz im Punkt 129 des Gutachtens zu folgendem Ergebnis:
„The enhanced executive control over the judiciary and prosecutors which the constitutional amendments would bring about, would be even more problematic. In the context in which there have already been longstanding concerns regarding the lack of independence of the Turkish judiciary the amendments would weaken an already inadequate system of judicial oversight of the executive.“ Ähnliche Statements, die das Fehlen einer unabhängigen Justiz in der Türkei zum Ausdruck bringen, stammen von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und vom Commissioner of Human Rights of the Council of Europe.
All diese Organisationen appelierten an die europäischen Institutionen im Europarat und der Europäischen Union, auf die Türkei einzuwirken – bisher vergeblich. Auch unsere „Plattform Rechtsstaat“ setzt sich dafür ein, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die evidenten Verstöße der Türkei gegen die Menschenrechtskonvention endlich wahrnehmen möge. Dazu später mehr von Hannes Tretter.
„So wie meine Verhaftung nichts mit Recht, Gesetz und Rechtsstaatlichkeit zu tun hatte, hat auch meine Freilassung nichts mit alldem zu tun“, sagte der 44-Jährige Journalist Deniz Yücel nach seiner Enthaftung.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
